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Gibt es Hoffnung?

 

Den blauen Planeten von oben sehen, auf Wege von Flüchtlingen zoomen.

Aus Zentralafrika brechen Menschen auf, um Europa zu erreichen. Bevor sie sich aufmachen, wissen sie wenig von Europa – es scheint ein Paradies zu sein, in dem es nur Reiche gibt. Reiche, die als Touristen Afrika besuchen.

Miriam Faßbender hat in ihrem Film „Fremd“ dokumentiert, wie es ist, unterwegs zur Festung Europa zu sein. Nehmen wir einen jungen Mann aus Mali, Anfang zwanzig, dessen Vater vor kurzem gestorben ist. Er ist der älteste von sieben Geschwistern und hat keinerlei Chancen, in Mali Arbeit zu finden. Seine Mutter beschließt, die Rinder zu verkaufen, von denen die Familie bisher gelebt hat und ihren Ältesten nach Europa zu schicken. Mit dem gesamten Erlös von 1500 Euro verlässt der junge Malier seine Familie. Illegal muss er die verschiedenen innerafrikanischen Grenzen überschreiten, sich in jedem Land irgendwie über Wasser halten. Er begegnet anderen Flüchtlingen, er trifft Schleuser, die er benötigt, um voran zu kommen. Bevor er nach Marokko gelangt, ist seine gesamte Barschaft aufgebraucht. Er verdingt sich bei Bauern, träumt davon, die Felder in Mali ähnlich bewässern zu können. Am liebsten würde er umkehren, auch weil er inzwischen erfahren hat, dass Europa die Afrikaner nicht mit offenen Armen aufnimmt. Er weiß nun auch von den Gefahren, im Mittelmeer zu ertrinken. Aber er darf die Erwartungen seiner Familie nicht enttäuschen, zumal er kein Geld mehr hat. Überwältigt ihn hin und wieder die Sehnsucht und er nimmt telefonischen Kontakt zu seiner Mutter auf, fürchtet er sich vor der schrecklichen, vor der unausweichlichen Frage nach dem ausbleibenden Geld für die Familie! Er muss weiter. Er muss genug Geld verdienen, um auf eines dieser Boote zu gelangen. Andere Flüchtlinge, denen er begegnet, sind schon seit fünf Jahren unterwegs, haben es bereits einmal nach Lampedusa geschafft, wurden wieder nach Marokko abgeschoben, haben Angehörige, die im blauen Grab ertrunken sind…

 

Die Kamera zoomt auf Syrien, zerbombte Städte, Aussichtslosigkeit, die sich bei den Überlebenden breit macht. Oft wagen es zuerst die Männer, die jungen oder die Familienväter. Sie setzen auf Asyl in Europa, lassen Frau und Kinder zurück, um sie möglichst bald nachzuholen. Viele sind gebildet, sind Lehrer, Ingenieure, Büroangestellte und bereiten sich gut vor. Ins Gepäck kommen ein wenig Kleidung, das Smartphone mit den wichtigsten Kontaktdaten und Fotos von den Lieben zuhause, Bargeld und der kleine Gebetsteppich. Sie schaffen es schneller, bezahlen die richtigen Schleuser, gelangen nach Europa, ins Land ihrer Hoffnung. Nein, es ist kein Land, dieses Europa, es besteht aus einzelnen Ländern, die Deutschland, Schweden, Niederlande heißen.

Die Syrer wollen dorthin, wo bereits Familienangehörige oder Freunde leben, nach Berlin oder Mannheim oder Stockholm. Nun gilt es, auf europäischem Boden, weiter nach Norden zu gelangen, nicht in Griechenland oder Italien zu bleiben, zudem will man sie dort nicht. Wie gerade die Wege günstig sind, spricht sich herum: etwa, die grüne Grenze zwischen Kosovo und Ungarn.

Ein Syrer, nennen wir ihn Rafik, schafft es. Doch die Freude, dass er diese Hürde genommen hat, währt nur kurz. Er wird im ungarischen Szeged aufgegriffen, wie ein Schwerkrimineller behandelt. Den Polizisten sind die Flüchtlinge lästig, die europäischen Menschenrechte ähnlich weit entfernt wie Brüssel: Rafik muss die Hände im Rücken verschränken, dann bindet man sie mit schmalen Plastikgurten fest, die in größerer Stückzahl verfügbar sind als Handschellen. Rafik wird in eine Zelle geschubst, in die Ungewissheit. Als Rafik nach zwei Tagen die Zelle verlassen darf, ein wenig Eintopf vorgesetzt bekommt, ist er überrascht, dass er sein Gepäck zurück erhält. Es geht wieder in die Freiheit, in einen Bus nach Belgrad. Im Bus stellt er fest, dass aus seiner Reisetasche das Smartphone fehlt und damit die Fotos, die Telefonnummern… Rafik weint. Jetzt hat er alles verloren.

Irgendwie kommt er nach Nürnberg. Im Erstaufnahmelager trifft er zufällig einen früheren Nachbarn. Beide fallen sich in die Arme, können ihr Glück kaum fassen.

Inzwischen erfährt Rafik genauer, was Dublin 3 bedeutet; bisher wusste er nur, dass er keiner Behörde sagen darf, wo er zuerst einen Fuß auf europäischen Boden gesetzt hat. Jetzt hört er, dass er nach Ungarn rück abgeschoben werden kann, weil er dort seine Fingerabdrücke lassen musste. In Rafik kriecht die Angst hoch: werden sie in dort wieder ins Gefängnis sperren, vielleicht wochen- oder monatelang? Werden sie ihn von Ungarn nach Syrien zurück schicken? Welche Zukunft wartet in Ungarn auf ihn, in dem Land, in dem er keine Freunde hat? Der Sachbearbeiter, bei dem Rafik seinen Asylantrag abgibt, hofft mit ihm, dass er in Deutschland bleiben kann. Er informiert Rafik, dass man die Entscheidung des Richters abwarten muss.

Während Rafik eine Aufenthaltserlaubnis für sechs Monate zugestellt wird, erhalten andere Syrer bereits die ersehnte Zusage, drei Jahre in Deutschland bleiben zu können. Auch sie haben in irgendeinem südeuropäischen Land Europa betreten. Aber sie hatten das Glück, dass es darüber keinen Nachweis gibt.

Rafik und andere Flüchtlinge beginnen Deutsch zu lernen, einfache Worte wie bitte, danke, haben, gehen. Schwierigere Wörter bringen sie von der Flüchtlingsberatung mit: Aufenthaltstitel, Bescheid, Familienzusammenführung.

Rafik versucht, nach vorne zu schauen. Den Verlust seines Smartphones  und seines Gebetsteppichs hat er verschmerzt, aber wie soll er mit dieser Unsicherheit leben? Wie seinen Familienangehörigen in Syrien begreifbar machen, warum sie immer noch nicht nachreisen dürfen?

Manchmal, wenn er wieder nicht schlafen kann, geht er auch nachts an seinen Briefkasten, sperrt auf und schaut nach, ob der Bescheid endlich da ist.