Der Mantel meines Vaters
„Aussteigen! Wagenkontrolle.“
Völlig verschreckt klettere ich aus unserem Auto, spüre die Angst meiner Mutter, registriere die gespielte Freundlichkeit meines Vaters. Mein Bruder erklärt sich bereit, die Rücksitze hochzuklappen. Darauf verzichten die tschechischen Grenzbeamten jedoch. Blicke in das Wageninnere, in Koffer und Taschen genügen ihnen für die Einreise. Die Visa werden überprüft, Mark in Kronen umgetauscht, dann dürfen wir wieder einsteigen.
Vati startet den Motor, keiner sagt einen Ton, der Ernst der Lage hat auch uns Kinder erreicht. Diesmal machen wir keinen vergnüglichen Wochenendausflug, meine Eltern sind angespannt: das erste Mal nach fast zwanzig Jahren, wir befinden uns im Jahr 1965, wagen sie es, die frühere Heimat zu besuchen, die heute hinter dem eisernen Vorhang liegt.
Was dieser eiserne Vorhang genau ist, wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht; jetzt hat er für mich etwas mit Frösteln, Kontrollen und Befehlston zu tun.
Nach längerem Schweigen die Frage von Mutti, ob wir etwas zu essen möchten. Ich verspüre keinen Hunger. Auch nach Singen ist mir nicht zumute, ganz anders als bei den Fahrten nach Österreich oder an den Chiemsee. Kleine, verlassene Dörfer hören sich für mich nach einem langweiligen Reiseziel an, auch wenn ich verstehe, dass meine Eltern ihre alte Heimat sehen wollen. Was diese Reise für meine Eltern wirklich bedeutet, kann ich mit meinen 12 Jahren nicht erfassen.
Die Fahrt zieht sich schier endlos hin, die Straßen sind voller Schlaglöcher. Obwohl es „nicht mehr weit sein kann“, scheinen wir immer langsamer zu werden, je näher wir dem unbekannten Ziel kommen.
Vati benennt inzwischen jeden Wald. Bach und Hügel. Endlich führt die Straße den „Führspannsberg“ hinunter in sein Heimatdorf Willenz. „Bilenec“ sagt das tschechische Ortsschild. Kurz hinter dem Ortsschild auf der rechten Seite sitzt ein älterer Mann auf einer Bank vor einem niedrigen Häuschen und hält Ausschau nach Westautos.
Genauso hatte es ein Kriegskamerad meines Vaters von den Reisen ins gemeinsame Heimatdorf geschildert. „Der Koksch sitzt immer da, wenn seine Arbeit und das Wetter es erlaubten.“, hatte er gemeint. Stimmt, da saß er.
Mein Vater hält das Auto an, steigt aus. Der kleine rundliche Mann steht auf, geht auf Vati zu, spricht ihn auf Deutsch an. Dann umarmt er Vati wie einen verlorenen Sohn, die Tränen laufen ihm über die Wangen.
Vati gibt uns ein Zeichen, dass wir aussteigen sollen. Wir werden alle umarmt, auch von Anna Koksch, genauso klein und rundlich wie ihr Mann, die inzwischen nach draußen gekommen war.
In umständlichem, schwer verständlichem Deutsch heißen sie uns willkommen, bitten uns ins Haus. Anna Koksch beginnt sofort aufzutischen, sich mehrfach für die schlechte Bewirtung entschuldigend. Wenn sie gewusst hätte, dass wir kommen! Dann hätte sie sich doch eingerichtet. Wie viel Zeit wir denn hätten, will sie wissen. Natürlich müssten wir über Nacht bleiben. Ein Hotel? Das komme nicht in Frage. Ob wir sie beleidigen wollten? Ob es nicht gut genug sei bei ihnen?
Zwar ist die Einfachheit – oder gar Armut – unserer Gastgeber offensichtlich, ins Auge sticht allerdings diese überwältigende Herzlichkeit. Ganz beschämt von so viel Gastfreundschaft, essen wir mehr, als wir zuhause je verzehrt hätten. Trotzdem befürchtet Anna, dass es uns nicht schmeckt, fordert uns immer weiter auf, nachzunehmen!
Nach dem Essen stellt Vati vorsichtig die Frage, ob man noch auf den Friedhof gehen könne, was bei Josef Koksch emsige Betriebsamkeit auslöst. Natürlich, selbstverständlich, doch mein Vater solle nicht erschrecken, denn der Friedhof sei in ähnlich schlechtem oder noch schlechterem Zustand wie das ganze Dorf.
So machen wir uns alle zum Friedhof auf, nur Anna bleibt zurück, will sich um das Kaffeetrinken kümmern, wenn wir sicherlich hungrig vom Friedhof zurückkehrten.
Als wir aus der Haustür treten, können wir schräg gegenüber auf einem Hügelchen den Friedhof hinter hohen Bäumen erahnen. Nur etwa 100m müssen wir die Strasse entlang laufen, sie dann überqueren. Ein ausgewaschener Weg führt durch eine alte Allee nach oben, wo sich ein verfallenes Türchen quietschend zum Friedhof hin öffnen lässt.
Die nicht mehr ganz zutreffende Erinnerung meines Vaters korrigiert Josef Koksch dezent und zielstrebig. Bald stehen wir am Grab meiner Großeltern – Großeltern, die ich nie kennengelernt habe. Zur größten Überraschung meiner Eltern ist das Grab bepflanzt und frisch geharkt. Sie können sich das nicht erklären, da seit der Vertreibung kein Familienmitglied mehr hier im Sudetenland lebt. Ein Rundgang über den Friedhof führt zu weiteren gepflegten Grabstellen, deren deutsche Namen meinem Vater wohl bekannt sind. „Weißt du, wer sich um die Gräber kümmert?“, wendet sich Vati an unseren Gastgeber. Josef entgegnet, er habe gewusst, die Angehörigen würden irgendwann wieder kommen, um die Gräber aufzusuchen. Da habe er sich ein wenig darum angenommen.
Rasch wechselt er das Thema, soviel Aufmerksamkeit ist ihm unangenehm, und fragt meinen Vater, ob er sein Elternhaus oder das, was davon übrig sei, schon gesehen habe? Vati meint, er habe zwar von seinem Kameraden gehört, dass der Hof noch existiert, aber wir beim Herfahren sind wir noch nicht so weit gekommen.
Der Bauernhof, aus dem mein Vater stammt, wird unsere nächste Station. Obwohl es auch dorthin nicht weit sein kann, fahren wir lieber mit dem Auto, irgendwie scheint das meinem Vater sicherer zu sein.
Das Bauernhaus steht an der Straße, ein tiefer Riss zieht sich schräg durch das Mauerwerk, ansonsten wirkt es intakt. Nach Ermutigung durch Josef Koksch steigen wir aus und gehen durch einen offenen Durchgang auf den grasbewachsenen Innenhof. Auf der Rückseite des Hauses wird eine abgetretene Steintreppe sichtbar, die zur Eingangstür führt. All das entspricht haargenau den Erinnerungen meines Vaters. Mir ist mulmig, hier herum zu stapfen, als würden wir etwas Verbotenes tun. Auch meinen Eltern ist die Situation nicht geheuer. Unser Gastgeber dagegen versteht unsere Zurückhaltung nicht, bringt unser Zögern mit dem schlechten Aussehen des Hauses in Verbindung. Vielmals entschuldigt er sich für den Riss in der Hauswand und das Gras auf dem Hof, als hätte er beides verursacht. Die wenigen Menschen, die im Dorf noch oder wieder wohnten, würden es nicht schaffen, alles in Stand zu halten. Als ihm klar wird, dass wir – zumindest jetzt - nicht mehr sehen wollen, zuckt er hilflos mit den Schultern. Ich bin erleichtert, wieder ins Auto steigen zu dürfen.
Die nächste Runde Essen wartet bereits auf uns, Anna hat den Kaffeetisch gedeckt und Kuchen hergezaubert. Nun wird erzählt von Menschen, deren Namen ich nicht kenne, alte Geschichten und noch ältere Geschichten aus der Zeit als Vati noch hier im Ort lebte werden aufgetischt. Zwischendurch sprechen unsere Gastgeber Tschechisch miteinander. Anna kann nicht so gut Deutsch, ist gebürtige Tschechin, während Josef beide Sprachen beherrscht. Er ist „Halbtrommler“ erfahre ich von meinen Eltern, d.h. er hatte einen deutschen und einen tschechischen Elternteil, deswegen sei er auch nicht vertrieben worden.
Josef Koksch will meinen Eltern ermöglichen, den Hof, aus dem mein Vater stammt, noch einmal von innen zu sehen. Er wird mit den jetzigen Bewohnern sprechen, die hätten bestimmt nichts dagegen einzuwenden. Meinen Eltern ist dabei nicht wohl zu Mute, der Eifer unseres Gastgebers jedoch nicht zu bremsen.
So gehen wir am nächsten Tag, diesmal zu Fuß, zum Elternhaus meines Vaters, die Bewohner sind auf unser Kommen vorbereitet. Auf das Klopfen von Josef öffnet eine Frau ängstlich die Tür. Da sie kein Deutsch spricht, muss Josef für uns übersetzen. Die Frau, nennen wir sie Vera, vielleicht so alt wie meine Eltern, wirkt sichtlich bedrückt. Es sei ihr sehr unangenehm, dass sie hier mit ihrer Familie leben muss, man habe ihnen dieses Haus zugewiesen. Auch sie seien vertrieben worden, Wolhyniendeutsche aus Polen stammend – dabei steigen ihr Tränen in die Augen, die sie verschämt abwischt. Meine Eltern sind betreten, versuchen Vera zu beruhigen, sie seien sogar froh, lassen sie Josef übersetzen, dass das Haus bewohnt ist, sonst wäre es sicher längst verfallen.
Vera bietet uns Stühle an, möchte uns bewirten, was Vati strikt ablehnt. Ob dies tatsächlich noch die Möbel von früher seien, wollen meine Eltern wissen. Vera bestätigt dies. Alles seien noch dieselben Möbel, die sie vorgefunden hätten, als sie hier einziehen mussten. Allmählich wagen es meine Eltern, sich umzusehen, Stück für Stück erkennen sie die Einrichtungsgegenstände ihrer ersten gemeinsamen Wohnung wieder. Sie hatten sich während des Kriegs hier eingerichtet, konnten aber nur wenige Tage hier wohnen, weil Vati erneut zur Wehrmacht und Mutti zum Arbeitsdienst musste.
Die jetzige Bewohnerin möchte, dass sich meine Eltern etwas mitnehmen, es seien doch ihre Sachen. Sie holt Besteck aus der Schublade, das meinen Eltern gehörte, Geschirr aus der Anrichte, das meine Großmutter als Aussteuer mit in ihre Ehe gebracht hatte, wie mein Vater erklärt.
Meine Eltern wollen nichts mitnehmen, versichern sie Vera. Sie hätten wirklich nur einen Blick in das Innere des Hauses werfen wollen. Wirklich, sie seien sehr dankbar, dass Vera alles so gut gepflegt habe, selbst hätten sie es nicht besser machen können.
Vera lässt erneut übersetzen, wie schrecklich es ihr sei, in der Wohnung meiner Eltern leben zu müssen, nie habe sie jemandem etwas wegnehmen wollen. Wie könnte sie ihrer Tochter, die bald heiraten werde, dieses Geschirr geben, das fremde Initialen trägt, das wäre eine Schande! Vera wäre erleichtert, wenn wir das Besteck und das Geschirr mitnähmen, und natürlich auch den Mantel.
„Welchen Mantel?“, fragt Vati.
Vera zeigt auf einen beigen Herrenmantel, der seitlich auf einem Bügel am Schrank hängt. Seit mehr als zwanzig Jahren wartet er dort: der Mantel meines Vaters!
.v